Teil 1

WAS IST EIGENTLICH EIN PHRASEOLOGISMUS?

1.1. Phraseologismus als Oberbegriff

Wir werden uns im Folgenden mit lexikalischen Zeichen besonderer Art beschäftigen – den Phraseologismen. In einschlägigen Arbeiten sind dafür auch andere Bezeichnungen geläufig – z.B. feste Wortverbindungen, Redewendungen, Redensarten, Phraseme, Wortgruppenlexeme oder Idiome. Wir werden im Folgenden den Ausdruck „Phraseologismus“ favorisieren und ihn gelegentlich aus Gründen der sprachlichen Variation durch „Phrasem“ oder „phraseologische Wendung/Einheit/Wortverbindung“ ersetzen.

Gemeint sind Ausdrücke wie

jmdm. einen Korb geben (dát nìkomu košem)
jmdn. an der Nase herumführen (vodit nìkoho za nos)
mit Ach und Krach (s odøenýma ušima, horko tìžko)
im Nu (vcukuletu, než bys øekl švec),

aber auch

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. (Jablko nepadá daleko od stromu.)
Wer zuletzt lacht, lacht am besten. (Kdo se smìje naposled, ten se smìje nejlépe.),

bei denen Ihnen sicher gleich der Ausdruck „Sprichwort“ (pøísloví) einfällt,

oder

Gute Fahrt! (Šastnou cestu!)
Hals- und Beinbruch! (Zlom vaz!)

Alle diese Ausdrücke lassen sich unter dem Begriff „Phraseologismus“ zusammenfassen. Dieser weite Begriff umfasst aber auch noch andere Erscheinungen, die erst weiter unten zur Sprache kommen. Er ist also ein Oberbegriff für verschiedene Subgruppen von sprachlichen Ausdrücken, die sich durch bestimmte Wesensmerkmale auszeichnen und durch diese von anderen Ausdrücken unterscheiden, die wir als freie Wortverbindungen bezeichnen. Mit freien Wortverbindungen sind z. B. folgende Ausdrücke gemeint:

jmdm. einen Korb Erdbeeren geben/schenken
den Hund an der Leine führen
eine lange Fahrt

oder

ein komplizierter Beinbruch.

Welche Merkmale sind es, die das Wesen der Phraseologismen ausmachen? In erster Linie die Mehrgliedrigkeit/Polylexikalität. Mit anderen Worten: Ein Phraseologismus besteht aus mindestens zwei Gliedern/Wörtern/Komponenten, die zusammen eine feste Einheit bilden. Die Festigkeit ist das zweite Wesensmerkmal der Phraseme. Sie besagt, dass es sich bei phraseologischen Wortverbindungen um Kombinationen von Wörtern handelt, die den Muttersprachlern genau in dieser Kombination (eventuell mit Varianten) bekannt und geläufig sind. Eine über die bekannten Varianten hinausgehende Veränderung empfinden die Muttersprachler entweder als falsch oder – wenn es der jeweilige Kontext erlaubt – als originell und sprachspielerisch (mehr dazu weiter unten). Reproduzierbarkeit ist das nächste Merkmal der Phraseologismen. Das bedeutet, dass wir Phraseologismen im Sprachgebrauch nicht nach bestimmten Regeln produzieren wie zum Beispiel Sätze. Wir benutzen nur solche Phraseologismen, die wir schon einmal gehört oder gelesen haben, d.h. wir reproduzieren sie. Schließlich gehört noch die Idiomatizität dazu. Sie ist zwar nicht obligatorisch, aber bei einem Großteil der Phraseologismen doch vorhanden. Außerdem ist das vor allem dieses Merkmal, dass den Fremdsprachlern beim Verstehen und Gebrauch phraseologischer Wendungen so viele Probleme bereitet. Was heißt Idiomatizität? Bei Burger (2003:31) wird die Idiomatizität als Diskrepanz zwischen der wörtlichen und der phraseologischen Bedeutung der Komponenten oder der ganzen Wortverbindung charakterisiert. Man könnte auch sagen, dass sich bei einem idiomatischen Phraseologismus seine Bedeutung nicht aus den Bedeutungen der einzelnen Wörter/Komponenten ergibt. Das Sprichwort Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm referiert in seiner phraseologischen Bedeutung eben nicht auf Äpfel und Baumstämme, sondern auf Kinder und Eltern. Zur Einführung soll dies reichen. Weitere Beispiele werden im Kapitel 1.2.1. präsentiert.

1.2. Zu Wesensmerkmalen

Im Kapitel 1.1. haben wir bereits die Merkmale der Phraseologismen genannt. Im Folgenden wollen wir uns mit zwei von ihnen näher beschäftigen.

1.2.1. Idiomatizität

Sie wissen bereits, dass die Idiomatizität keine obligatorische Eigenschaft der Phraseologismen ist. Sie ist jedoch typisch für die Gruppe der Phraseolexeme (PL)/Idiome. Nach dem Grad der Idiomatizität unterscheiden wir voll- und teilidiomatische Phraseologismen. Wenn ein Phraseologismus vollidiomatisch ist, heißt das, dass alle seine Komponenten ihre ursprüngliche Bedeutung, die sie außerhalb der phraseologischen Wendung tragen, verloren haben. Zum Beispiel in dem Phrasem aus der Haut fahren, also ‚wütend, ungeduldig werden’ haben beide autosemantischen Komponenten Haut und fahren ihre ursprüngliche Bedeutung eingebüßt. Dagegen in der Wendung einen Streit vom Zaune brechen geht es tatsächlich um einen Streit, der ohne einsichtigen Grund begonnen wurde. Viele Phraseologismen haben neben einer idiomatischen phraseologischen Bedeutung auch noch eine ‚wörtliche’, nicht-phraseologische, so z.B. die Wendung auf der Straße liegen. Wenn ein verletzter Radfahrer auf der Straße liegt, handelt es sich um den wörtlichen Gebrauch dieser Wortverbindung, wenn eine Person entlassen wird, dann liegt sie ebenfalls auf der Straße, diesmal aber im phraseologischen Sinne. Die Homonymie solcher Phraseologismen wird häufig als ein wirksames Stilmittel zu Sprachspielen verwendet.

1.2.2. Stabilität

Wolfgang Fleischer (1997:36) stellt fest: „Mit der Idiomatizität hängt es zusammen, daß dem Austausch der phraseologischen Komponenten in der Regel weit engere Grenzen gesetzt sind als in einer freien syntaktischen Wortverbindung. In vielen Fällen ist ein solcher Austausch überhaupt nicht möglich; es liegt eine lexikalisch-semantische Stabilität vor.” In dem Phraseologismus die Katze im Sack kaufen ‚etw. ungeprüft übernehmen, kaufen (und dabei übervorteilt werden)’ kann man die Komponente Katze eben nicht einfach durch Hund oder Hasen (wie man es im Tschechischen sagen würde) ersetzen, ohne dass dabei die idiomatische Gesamtbedeutung verloren gehen würde. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass viele Phraseme konventionalisierte alternative Varianten haben (jmdm. klaren/reinen Wein einschenken ‚jmdm. uneingeschränkt die Wahrheit sagen’, sich die Beine in den Leib/in den Bauch stehen ‚sehr lange stehen und warten’). Diese lexikalisierten Varianten sind zu unterscheiden von nicht konventionalisierten, individuellen Modifikationen. So eine liegt z. B. in der folgenden Anekdote (zitiert nach Wotjak 1996:6) vor (Wand statt Hand in der Wendung von der Hand in den Mund leben).

Der Pianist Grünfeld (1852 - 1924) war in einer Notsituation gezwungen, mehrere Bilder seiner Gemäldesammlung zu verkaufen, um sich Lebensmittel dafür zu beschaffen. Ein Bekannter traf ihn auf der Straße und fragte ihn nach der Begrüßung, wie es ihm ginge. Professor Grünfeld gab ihm zur Antwort: „Na ja, man lebt so von der Wand in den Mund.” (von der Hand in den Mund leben = die Einnahmen sofort wieder für Lebensbedürfnisse ausgeben).

Burger (2007:160) bezeichnet okkasionelle Modifikationen als „den vermutlich interessantesten Verwendungsaspekt der Phraseologie in heutigen Texten“. Modifizierte Phraseologismen werden mit sprachspielerischer, auf Expressivität gerichteter Absicht formal und/oder inhaltlich abgewandelt. Die formale Abwandlung eines Phraseologismus besteht in der Reduzierung, Erweiterung oder Substitution seines Komponentenbestandes (siehe Anekdote oben und weitere Beispiele im Teil 2) in einem konkreten Text, die von semantischen Modifikationen begleitet werden können, aber nicht müssen (vgl. Burger 2007:27f., 160-162). Unter semantischen Modifikationen verstehen wir den Wechsel zwischen der phraseologischen und wörtlichen Lesart einer festen Wortverbindung im Text (vgl. Burger 2007:162-170).

Beleg für semantische Modifikation:

Beleg für formale Modifikation:

Nicht jede formale Abwandlung eines Phraseologismus geschieht jedoch bewusst und gezielt. Unter Umständen kann es sich schlicht und einfach um einen Fehler handeln - wie in dem folgenden Beleg, in dem zwei Idiome durcheinander gerieten: den Teufel an die Wand malen und jmdm. den schwarzen Peter zuschieben. Solche Erscheinungen nennt man Kontamination, also Vermengung/Vermischung zweier sprachlicher Einheiten.

In dem nächsten Beleg handelt es sich um einen Versprecher. Der Fussballer Lothar Matthäus soll nach einem verlorenen Spiel gesagt haben:

Wir dürfen jetzt nur nicht den Sand in den Kopf stecken!

Gemeint war: Wir dürfen jetzt nur nicht den Kopf in den Sand stecken!, mit anderen Worten: Wir dürfen jetzt nur nicht vor den (unangenehmen) Tatsachen die Augen verschließen, sie nicht wahrhaben wollen, vor ihnen fliehen.

Die Stabilität der Phraseme führt z.B. dazu, dass in ihnen Wörter existieren, die außerhalb des Phraseologismus nicht (mehr) vorkommen – die unikalen Komponenten. In der Wendung etw. ad acta legen ‚etw. als erledigt ansehen’ kommt die lateinische Wortgruppe ad acta als unikale Komponente vor. Ein anderer Phraseologismus mit unikaler Komponente ist Maulaffen feilhalten, der ‚gaffen, müßig zuschauen‘ bedeutet. In Röhrich (1994) finden wir zu der unikalen Komponente Maulaffen folgende Erklärung:

„Der Kienspan, mit dem man einst das Haus notdürftig erhellte, wurde gelegentlich, wenn man die Hände nicht frei hatte, zwischen die Zähne geklemmt... Es lag nahe, den Tonklotz, der dem brennenden Kienspan als Unterlage diente, in einen menschlichen Kopf umzubilden, dessen verbreiteter Mund den Span hielt. Tatsächlich sind solche Tonköpfe als Kienspanhalter seit dem 13. bis 14. Jh. nachweisbar, und sie wurden in Österreich als „Maulauf” oder „Gaenmaul”, in Süddtl. als „Gähnaffen” bez. (vgl. ‚jmdm. einen Gähnaffen machen‘, eine Grimasse mit offenem Mund und herausgestreckter Zunge schneiden).”

Der Kienspan (tschechisch louè) war eine Art Fackel, eigentlich abgespaltenes Holzstück aus harzreichem und daher leicht entzündbarem (Kiefern-) Holz.

1.3. Zur Gliederung des phraseologischen Bereiches

Oben wurde bereits angedeutet, dass zur Phraseologie unterschiedliche sprachliche Erscheinungen gehören und dass man das phraseologische System einer Sprache deshalb nach unterschiedlichen Gesichtspunkten einteilen kann.

Schauen Sie sich zunächst die Übersicht von Barbara Wotjak (2005: 372f.) an und überlegen Sie, welche der phraseologischen Untergruppen Sie erwartet haben und welche für Sie eventuell überraschend sind.

Lesen Sie jetzt einige Ausschnitte aus einem anderen Beitrag von Barbara Wotjak (1996). Konzentrieren Sie sich auf die charakteristischen Merkmale der dort genannten Untergruppen von Phraseologismen.

1.3.1. Morphologisch-syntaktische Klassifikation der Phraseolexeme (PL)/Idiome

In dem Text von Wotjak (1996) wurden die PL in verbale, substantivische, adverbiale und adjektivische PL eingeteilt, mit anderen Worten: sie wurden bestimmten Wortarten/-klassen zugeordnet. Bei dieser Zuordnung spielen ihre grammatischen Kategorien (z.B. Genus, Numerus, Kasus, Tempus usw.) und ihre mögliche Satzgliedfunktion (Prädikat, Subjekt, Adverbialbestimmung, Attribut, Prädikativum) eine Rolle.

Substantivische Phraseolexeme

Zu den vollidiomatischen substantivischen PL gehört z. B. schwarzes Schaf ‚derjenige in einer Gruppe, der sich nicht einordnet, der unangenehm auffällt’; die bessere Hälfte ‚Ehefrau’, verkrachte Existenz ‚Mensch, der im Berufsleben gescheitert ist’, das Ei des Kolumbus ‚verblüffend einfache Lösung’. Zu teilidiomatischen PL können gezählt werden blutiger Anfänger ‚sehr unerfahrener Anfänger’, faule Ausrede ‚wenig überzeugende Ausrede’, großer Bahnhof ‚großer/festlicher Empfang’.

Adjektivische Phraseolexeme

Sie stellen eine Randgruppe dar und sind äußerst selten. Es handelt sich um feste Wendungen, die attributiv gebraucht werden können. So z. B. gut gepolstert ‚wohlbeleibt‘ oder ,mit Geld gut ausgestattet’ im Satz: Sie hat einen älteren, gut gepolsterten Herrn geheiratet. Weiter gehört z. B. dazu: frisch/neu gebacken ‚in einem Amt, einer Lebenssituation neu’ wie in frisch gebackener Ehemann.

Adverbiale PL

Diese Gruppe der PL ist außerordentlich reich entwickelt. Die meisten von ihnen werden als Adverbialbestimmungen im Satz verwendet:

Manche treten als Prädikativum, also als nominaler Teil des Prädikats, auf:

Äußerst selten kommt der attributive Gebrauch vor:

Im Bereich der adverbialen PL begegnen uns sowohl voll- und teil- als auch nicht-idiomatische Wendungen.

Vollidiomatische adverbiale PL:

Teilidiomatische adverbiale PL:

Nichtidiomatische adverbiale PL:

Verbale PL

Sie sind die umfangreichste Gruppe der PL. Die vollidiomatischen PL überwiegen (eine lange Leitung haben ‚begriffsstutzig sein’, bei jmdm. einen Stein im Brett haben ‚bei jmdm. beliebt sein’). Zu teilidiomatischen PL gehört z. B. die Katze im Sack kaufen ‚etw. ungeprüft/ungesehen kaufen’, etw. hoch und heilig versprechen ‚etw. beteuern, mit Nachdruck versprechen’. Unter den verbalen PL sind zwei Typen zu unterscheiden: die infinitivfähigen verbalen PL und die festgeprägten prädikativen Konstruktionen. Bei dem ersten Typ steht das Verb in der Grundform im Infinitiv und das Subjekt ist lexikalisch variabel:

Bei dem zweiten Typ ist das Subjekt lexikalisch festgelegt und im Zusammenhang damit ist auch die verbale Form, genauer gesagt die Person und der Numerus des Verbs, nicht variabel:

Besondere Strukturtypen: Komparative PL und Zwillingsformeln

Zu besonderen Strukturtypen werden die komparativen (vergleichenden) PL und die phraseologischen Wortpaare (Zwillingsformeln) gerechnet.

Unter komparativen PL verstehen wir eine feste Wortverbindung, die im Prinzip aus drei Komponenten besteht (dem Vergleichsobjekt, dem tertium comparationis und dem Vergleichsmaß), mit Hilfe einer Vergleichspartikel/Konjunktion (wie, als, als ob, als wenn, wie wenn) zusammengefügt ist und eine semantische Ganzheit bildet. Das Vergleichsobjekt muss jedoch nicht explizit genannt werden, so wird z.B. in Wörterbüchern häufig auf die Angabe des Vergleichsobjektes verzichtet – essen wie ein Spatz statt jmd. isst wie ein Spatz.

Das Charakteristische der Paarformeln ist ihre Struktur, es handelt sich um zwei (nur selten drei) Wörter der gleichen Wortart, die durch eine Konjunktion (und, weder ... noch, oder) oder eine Präposition (in, an) verknüpft sind.

Literaturhinweise:


 
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Aufgabe 4 Aufgabe 5 Aufgabe 6

 

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