Teil 4

PHRASEOLOGISMEN ALS EIN DIDAKTISCHES PHÄNOMEN

Phraseodidaktik ist ein Teilgebiet der Phraseologieforschung, das sich den Problemen der Vermittlung von Phraseologismen im Unterricht widmet – und zwar sowohl im muttersprachlichen Unterricht als auch im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Uns interessiert an dieser Stelle nur der DaF-Unterricht.

Dass die Phraseologie im DaF-Unterricht einen festen Platz hat, darüber sind sich die Didaktiker weitgehend einig. Schließlich sind Phraseologismen für die Muttersprachler ein selbstverständliches und beliebtes Sprachmittel; in der Alttagskommunikation sowie in der Presse und Belletristik kommt man an ihnen nicht vorbei. Man kann mit ihnen so saftig und würzig bewerten, kommentieren, Anspielungen formulieren, ironisieren, emotionale Expressivität ausdrücken, sich bildhaft und anschaulich äußern sowie die eigene Kreativität und Originalität im sprachspielerischen Umgang mit ihnen unter Beweis stellen. Bevor ein ausländischer Deutschlerner das alles kann, hat er einen weiten Weg zu gehen, an dessen Anfang ein anderes Können steht – nämlich das Entschlüsseln- und Verstehenkönnen dessen, was die Muttersprachler mit ihren Phraseologismen im Text anstellen können.

Was macht das Erlernen von Phraseologismen eigentlich so schwer? Lüger (1997: 79-88) geht in seinem anregenden Aufsatz auf vier Aspekte ein, die für den Lerner aus einem Phraseologismus ein Lernproblem machen. Es handelt sich um die Komplexität sowie syntaktische, semantische und pragmatische Besonderheiten. Im Folgenden sollen diese Aspekte skizziert werden.

Die Vermittlung von Phraseologismen ist jedoch auch eine Herausforderung für die Lehrer. Auch wenn die Zeit des phraseodidaktischen Dornröschenschlafs, wie es Peter Kühn (1987) seiner Zeit formulierte, zum Glück schon vorbei ist (vgl. z.B. Kühn 1996, Wotjak/Richter 1994, Wotjak 1996, Hessky/Ettinger 1997, Koleèková/Haupenthal 2002), ist auf diesem Gebiet noch sehr viel zu leisten. Große Verdienste um die Vorantreibung der phraseodidaktischen Forschung hat Peter Kühn. Er prägte die Methode des phraseodidaktischen Dreischritts für die Behandlung von Phraseologismen im Unterricht. Die wichtigsten methodischen Leitlinien fasst er in den folgenden „Faustregeln” zusammen (1996:16). Er bezieht sich zwar nur auf die Gruppe der Redewendungen (Idiome/Phraseolexeme), aber das Gleiche trifft auch für andere Gruppen der Phraseologismen wie Routineformeln und Sprichwörter zu.

Faustregeln zur Behandlung von Redewendungen im Unterricht

  • Glauben Sie nicht an das Märchen vom Grundbestand häufiger Redewendungen: Es gibt bisher keine wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnisse über die Frequenz von Redewendungen.

  • Vermeiden Sie Einzelstunden über Redewendungen. Behandeln und thematisieren Sie Redewendungen dort, wo sie in authentischer Kommunikation auftreten. Verfolgen Sie konsequent dieses “Zufalls”-Prinzip: Durch die Textsorten, Themenbezüge, Situationen und Kontexte ergibt sich wie von selbst eine Auswahl und Zusammenstellung “wichtiger”, “typischer” oder “häufiger” Redewendungen.

  • Legen Sie Redewendungen nicht auf bestimmte Register fest. Redewendungen können stilistisch vielseitig verwendet werden: in der gesprochenen wie in der geschriebenen Sprache, wie auch in privaten, halböffentlichen und öffentlichen Sprech- und Schreibsituationen.

  • Beachten Sie den phraseodidaktischen Dreischritt: Die Lernenden sollen Redewendungen erkennen, verstehen, verwenden. Üben Sie das Erkennen und Verstehen von Redewendungen an Texten. Denken Sie daran: Die Deutschlernenden können Redewendungen nur in ihnen vertrauten textsorten-, adressaten- und situationstypischen Verwendungszusammenhängen gebrauchen. Achten Sie besonders auf die Verwendung von Redewendungen im Unterrichtsgespräch.

  • Beherzigen Sie den Grundsatz: Arbeit mit Redewendungen ist Arbeit mit Texten und an Texten. Redewendungen werden textsortenspezifisch, adressatentypisch und situationsangemessen verwendet. Diese Verwendungszusammenhänge müssen erarbeitet werden.

  • Achten Sie auf den semantischen Mehrwert von Redewendungen. Versuchen Sie, diesen Mehrwert aus dem Kontext herauszuarbeiten.

Wir möchten uns im Folgenden vor allem mit der Faustregel 4 beschäftigen – dem phraseodidaktischen Dreischritt. Diese Methode besagt, dass der Lerner in einem ersten Schritt den Phraseologismus im Text erkennen, ihn als eine Wortverbindung besonderer, sprich phraseologischer, Art identifizieren soll. Auch das Erkennen von Redewendungen muss gelernt sein. Ettinger (1998: 207) nennt drei Entdeckungsprozeduren. Um Redewendungen im Text entdecken zu können, muss der Lerner sensibilisiert werden für

Der kleine Tim hat beim Spielen das Blumenbeet des Hausmeisters zertrampelt. Der Hausmeister hat sich bei Tims Mutter beschwert. Am nächsten Tag fragt er den Jungen: „Sag mal, Tim, hat dir deine Mutter eigentlich gestern die Leviten gelesen?“ – „Nein. Sie hat mich wieder mit Märchen gelangweilt!“ (jmdm. die Leviten lesen ‚jmdn. wegen seines tadelnswerten Verhaltens gehörig zurechweisen’)


(die Tapeten wechseln ‚umziehen; den Aufenthaltsort, Arbeitsplatz wechseln)

Der zweite Schritt, den ein Deutschlernender gehen muss, ist, die Bedeutung der Redewendung aus dem Kontext zu erschließen. Im Zusammenhang damit stehen die Faustregeln Nr. 5 und 6, in denen hervorgehoben wird, dass Arbeit mit Phraseologismen unbedingt Arbeit mit und an Texten bedeutet. Nur durch den Kontext kann der „Mehrwert” herausgearbeitet werden. Bei der Erschließung der Bedeutung eines unbekannten Phraseologismus kann neben dem Kontext auch ein geeignetes Bild eine große Hilfe sein. Zum Beispiel eignet sich der folgende Bilderwitz zur Semantisierung der Redewendung jmdm. einen Bärendienst erweisen, d. h. ‚jmdm. (gegebenenfalls guten Willens) einen Dienst leisten, dessen Resultat für den Empfänger schlimme Folgen hat‘.

Schließlich soll der Lerner in einem dritten Schritt die Redewendung verwenden, und zwar zuerst in Situationen und Kontexten, die denen ähneln, in denen ihm der Phraseologismus vermittelt wurde. In diesem Punkt schließen wir uns Ettinger (1998: 204f.) und anderen an, die von den realen Möglichkeiten des schulischen bzw. gymnasialen Fremdsprachenunterrichts ausgehend lediglich eine passive Beherrschung fremdsprachiger Redewendungen als realistisch ansehen. Eine aktive Beherrschung von Redewendungen sollte erst bei fortgeschrittenen Lernern, z.B. im universitären Sprachunterricht, angestrebt werden. Im Hinblick auf die in der Faustregel 4 anvisierte Verwendung der Phraseologismen im Unterrichtsgespräch ist meiner Meinung nach ebenfalls große Zurückhaltung anzuraten, nicht nur angesichts des realen Sprachniveaus und der kommunikativen Kompetenz der Lernenden, sondern auch vieler tschechischer Lehrender. Eine Ausnahme bilden Routineformeln vom Typ Gute Besserung! Gute Fahrt! Guten Appetit! Wie geht´s?, die bereits in der Grundstufe erlernt werden, weil man ohne sie in der Alltagskommunikation nicht auskommen würde.

Eine wichtige Aufgabe des Lehrers sehen wir darin, seine Lernenden dafür zu sensibilisieren, dass Phraseologismen ein äußerst sensibles Sprachmaterial darstellen, auf dessen falschen Gebrauch die Muttersprachler entsprechend sensibel reagieren.

Im Teil 5 / 6 / 7 dieses Kapitels finden Sie Didaktisierungsvorschläge für die Arbeit mit Phraseologismen im DaF-Unterricht anhand geeigneter kurzer Texte. Die Didaktisierungsvorschläge 1 und 2 werden von uns kommentiert, d.h. wir versuchen unser methodisches Vorgehen zu erklären und zu begründen. Der Didaktisierungsvorschlag 3 beinhaltet solche Kommentare nicht.

Literaturhinweise:


 
Aufgabe 1 Aufgabe 2 Aufgabe 3
Aufgabe 4